Sie saß ganz ruhig und entspannt in der Sänfte. Einzig durch ihre gesunde, bronze-goldene Hautfarbe konnte man erkennen, dass sie in letzter Zeit gut gespeist hatte. Wer hätte dem unschuldigen hübschen Gesicht, aus dem die kindlichen Züge noch nicht ganz herausgewachsen waren, auch ansehen können, dass ihr ein grausamer Tod wie ein tiefschwarzer Schatten auf den Fuß folgte? Ein treuer Hund, der schwanzwedelnd seiner Herrin zu gefallen suchte. Nichts sonst an der ruhigen, friedlichen Haltung hätte einen unwissenden Zuschauer auf die Idee bringen können, dass dieses Mädchen im letzten Monat eine ganze Kleinstadt ausgerottet hatte. Die Erde hatte sich unter ihren Füßen dunkelrot gefärbt von dem vergossenen Blut ihrer Opfer – schließlich hatte sie nicht einfach alle leer getrunken, sondern manche ausbluten lassen.
Seit sie in ein Wesen der Dunkelheit, eine Wächterin der Nacht, verwandelt worden war, hatte sich das junge Mädchen stark verändert. Voller Spott und Hohn dachte sie nun manchmal an ihr früheres Verhalten, wie sie sich an ein „Gewissen“ gehalten hatte – ein unnützer, ja sogar hinderlicher Rest Menschlichkeit, den sie inzwischen erfolgreich abgestriffen hatte, wie eine Schlange die alte Haut, die sie lange getragen, nun aber abgelegt hatte. Sie war einfach zu klein für sie geworden.
Die Sänfte hielt mit einem sanften Ruck an und stand dann still. Sie ließ ihren Geist leicht ausschweifen und erkannte eine Villa und Aurelius, der aus eben jenem Gebäude stürzte und zu ihr eilte. Er machte vor der Sänfte seinen Gladiatorgruß und kniete dann nieder. Die Vampirin schob die Seidenschleier zur Seite und erhob sich in einer anmutigen, fließenden Bewegung aus der Sänfte und blieb vor dem Gladiator stehen, der sich langsam erhob und sie dann zu der Villa begleitete.
„Die Familie wartet im Inneren der Villa auf Euch, Herrin“, erklärte Aurelius. Sie hatte ihn vorausgeschickt, damit er ihr eine angemessene Unterkunft besorgte. Er hatte seine Aufgabe scheinbar ganz ordentlich erfüllt.
„Es ist die prachtvollste und luxuriöseste Villa der ganzen Gegend, damit Ihr allerhöchsten Komfort genießen könnt“, erklärte er ausgesprochen zufrieden mit sich selbst. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und trat vor ihm in die Villa. Ob sie angemessen war, würde nur sie selbst entscheiden können.
Das Innere der Villa sah sehr freundlich aus, selbst bei Nacht. Sie hörte Wasser plätschern, roch aber Blut, das man offensichtlich zu entfernen versucht hatte. Inzwischen kannte Aurelius sie relativ gut. Er beobachtete sie immer irgendwie, um auf ihre leisesten Wünsche zu reagieren.
„Wir mussten die Wachen der Familie überwältigen. Bitte verzeiht, wenn Ihr das Blut noch riechen könnt. Wir taten unser Möglichstes, die Verschmutzung zu beseitigen. Hier entlang, Herrin.“
Er führte sie in eine Art Atrium, wo leise ein Impluvium plätscherte. Sie hatte einige weitere Gladiatoren und ausgesprochen gute Soldaten rekrutiert. Die Vampirin war sich nicht ganz sicher, wie sie es gemacht hatte, aber sie hatte offenbar einen Weg gefunden, von Menschen zu trinken, ohne sie zu töten. Allerdings hatte das den Nebeneffekt, dass die Menschen sich ihr irgendwie verpflichtet fühlten. Sie folgten ihr wie ergebene Hündchen und taten alles für sie. Es war scheinbar sogar eine Art … Belohnung für sie, wenn sie von ihnen trank.
Das konnte sie aber selbstverständlich nicht bei jedem machen, so viele konnte sie nicht gebrauchen. Also musste sie den Rest töten. Das war auch ihr klar. Außerdem war das ihr Recht! Ihr Recht als Vampirin!
Als sie nun in dieser Art Atrium stand, sah sie eine verstörte Familie, die von ihren Leuten festgehalten wurde. Als sie ihnen in die Augen sah, erblickte Lamia Angst und Hass, aber auch aufkeimende Bewunderung und Faszination. Wie bei allen Menschen …
„Ihr habt ein ausgesprochen hübsches Haus“, bemerkte sie ruhig und sah sich zufrieden um.
„Was wollen Sie von uns?“, fragte offenbar der Herr des Hauses feindselig.
„Ich werde für die nächste Zeit hier wohnen“, erklärte die Dunkelhaarige kühl und trat vor den Mann, der von einem ihrer Untergebenen festgehalten wurde. Er wehrte sich verärgert.
„Ihr seid in diesem Haus nicht willkommen!“, knurrte er, was der Vampirin ein süffisantes Lächeln auf die Lippen zauberte.
„Oh, Ihr werdet mich willkommen heißen – oder sterben“, antwortete sie. Sie wusste ganz genau, dass sie die Familie brauchte, damit diese die Bediensteten und Sklaven befehligte. Lamia hatte keine Lust, eine Meute namenloser Niemande zu ihren Untertanen zu machen. Sie hatte festgestellt, dass sie auch ausgesprochen lästig werden konnten, weshalb sie sie tötete. Aber die Leute hier würde sie noch brauchen. Und die Sklaven und Angestellten würde sie ja einen nach dem anderen leer trinken können.
Noch ehe der Mann etwas erwidern konnte, sah sie ihm tief und fest in die Augen, bevor sie seinen Kopf zur Seite legte und ihre langen, scharfen Fangzähne im zarten und verletzlichen Fleisch seines Halses versenkte. Sein Blut floss heiß in ihren Mund und sie saugte es gierig aus der Wunde. Es war dieses Gefühl, das sie so begehrte, dieses furchtbar lebendige Gefühl. Sie wusste, dass es gestohlene Erinnerungen und Gefühle waren, die sie durchströmten, aber es war auch das Gefühl eines kraftvoll schlagenden Herzens.
Rechtzeitig hörte sie auf. Die Vampirin hatte sich mit dem Mann auf den Boden sinken lassen und genoss den köstlichen Nachgeschmack und das sanfte Prickeln eines Bluttropfens auf ihrer Lippe. Ihr Blick wanderte weiter über die Familie, während ihre Leute den wimmernden Mann wegzogen und vermutlich in ein Bett legten und versorgten. Ihr Blick dagegen war an der Hausherrin hängen geblieben, die vor den Fremden scheinbar kaum Angst hatte, dafür aber war sie wohl verunsichert, wo sie war.
Nur ganz langsam erhob die Unsterbliche sich, wobei ihre Augen die Frau fixierten und ein reizendes, vergnügtes Lachen über ihre Lippen flutete, welches in jeden Winkel des Raumes floss, gegen die Anwesenden brandete und sich schließlich in der Luft verlor. Ihre Leute strahlten und die Blicke der Familie hingen an ihr. Die kleinste Tochter riss sich von ihrem ältesten Bruder los und lief zu der Vampirin, die sie in einer einzigen anmutigen Bewegung empor hob, an sich drückte und die Fangzähne in den dünnen Hals versenkte. Das Blut des Kindes schmeckte gänzlich anders als das des Hausherren. Unschuldig, vertrauensvoll, … furchtlos. Dieses Kind war eben zu ihr gerannt und hatte sich ihr ohne Zögern, Zaudern, Zweifel oder Furcht geopfert.
Als sie von der Kleinen abließ, atmete diese nur noch schwach und lag klein und leicht wie eine Feder in den Armen der Vampirin.
Das Bild, das sich ihr nun bot, hatte sich verändert: Offenbar hatte sich der älteste Sohn losgerissen, um seiner Schwester zur Hilfe zu eilen, doch ihre Leute hatten ihn aufgehalten und zu Boden geworfen. Mit einer merkwürdig fürsorglich-zärtlichen Bewegung legte sie Aurelius das Kind in die Arme und trat dann langsam zu dem jungen Mann, dessen Augen groß und rund wurden.
„Wolltest du mich eben angreifen?“, fragte sie bedrohlich. Nein, eigentlich machte sie einen völlig harmlosen Eindruck. Als wäre sie tatsächlich nur ein 15-jähriges Mädchen, das in einem fremden Land zu Gast war. Als könnte sie kein Wässerchen trüben und hatte nicht soeben zwei Menschen einen Großteil ihres Blutes ausgesaugt.
Völlig verstört versuchte der junge Mann rückwärts zu rutschen und starrte zu ihr hoch, während sie langsam auf ihn zuging.
„N-nein!“, flüsterte er leise. Geschmeidig trat sie noch mals nach vorne und beugte sich zu ihm herab. Er machte ziemlich lahme Befreiungsversuche – das war der Verstand der Menschen, der noch immer vor einer Gefahr warnte, wenn der Instinkt ihrer Ausstrahlung längst erlegen war und je erwachsener ein Mensch war, desto mehr ließ er sich von seinem närrischen, albernen Verstand leiten und weniger vom Instinkt –, während sie ihn hoch zog und bestimmt nah bei sich hielt. Langsam beugte sie ihren Kopf zu seinem und streiften mit den Lippen sein Ohr.
„So sah es aber für mich aus“, wisperte sie leise diesem Menschen zu. Sie wusste, was sie tun würde und er wusste es auch. Wie ein Kaninchen, das in seinem Bau in die Enge getrieben worden war und der einzige Ausweg wurde von dem Fuchs versperrt, der das kleine Tier gejagt hatte. Sein Herz klopfte schnell, viel zu schnell, gegen ihre Brust, wo ein kaltes, vampirisches Herz in seinem langsamen, ruhigen Rhythmus schlug, das sich von solchen Tragödien wie der die ihrem Opfer widerfahren würde, längst nicht mehr berühren ließ. Die Vampirin spürte, wie er zitterte und roch den kalten, klebrigen Angstschweiß. Dann schlug sie zu.
Es ging wohl viel zu schnell, als dass er irgendwie hätte reagieren können. Sie hatte die Arme schraubstockartig um ihr Opfer gelegt, sodass er sich auch gar nicht wehren konnte, während sie ihn um sein Blut erleichterte. Er lag bereits im Sterben, als sie von ihm abließ und ihn röchelnd auf den Steinboden fallen ließ, während sie sich mit einem kalten, verächtlichen Blick auf ihn aufrichtete und sich mit einem Stofftuch die Mundwinkel abtupfte. Gerade wollte sie sich abwenden, als ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zog.
„Lacrima … La … Lamiae“, röchelte der Sterbende und sah sie leidend an. Die Vampirin runzelte die Stirn.
„Träne der Lamia?“, übersetzte sie den lateinischen Ausspruch auf Griechisch. Ein sterbender Grieche, der Latein sprach?
Mit einem großen Schritt war sie bei dem Dahinsiechenden.
„Lamia? Welche Lamia? Was willst du damit sagen?“
Wut und Zorn funkelten unkontrollierbar und kurz vor dem Ausbruch in ihren Augen, sprühten Funken und zeigten eine lodernde Flamme. Ohne, dass sie es bemerkte, züngelte eine jede Kerzenflamme im Raum auf und flackerte blutrot und schwarz.
Der Mann aber stöhnte nur auf und verdrehte die Augen und während sie versuchte, in seinen Geist einzudringen, fühlte sie ihn schwinden. Gerade noch rechtzeitig zog sie sich zurück, ehe sie sich nicht mehr von ihm trennen konnte und nicht mehr zu ihrem Körper zurückfinden konnte.
Wutentbrannt stieß sie die Leiche von sich und wirbelte herum. Der zweite Sohn trug das Gewand eines jungen Priesters und hatte sich vor seine Mutter, die älteste Tochter und den kleinsten Sohn geschoben.
„Du!“, knurrte die Vampirin und zeigte auf ihn.
„Du wirst jetzt mit mir in einen bequemen Wohnraum gehen! Schafft die anderen in ihre Zimmer, ich werde mich später ihrer annehmen!“, blaffte sie ihre Leute an, packte den Priester am Handgelenk und zerrte ihn mit sich ein paar Schritte auf Aurelius zu. Der Hielt noch immer das kleine Mädchen. Mit ihrer freien Hand strich sie ihr sacht über das Haar.
„Ich will, dass du dich gut um sie kümmerst, Aurelius“, wandte sie sich an den ersten ihrer Gefolgsleute.
„Von dem Haufen hier ist sie mir die Liebste. Ich will, dass es ihr gut geht!“
Aurelius nickte zum Zeichen, verstanden zu haben, verneigte sich leicht und ging dann ebenfalls, sodass nur noch die Vampirin und der Priester übrigblieben, den sie nun hinter sich her in einen der Wohnräume zerrte.
Dort angekommen hatte sich die Vampirin wieder ein wenig beruhigt. Sie drückte den jungen Priester auf ein Polster und setzte sich ihm gegenüber.
„Nun, mein Freund“, begann sie ruhig, „du wirst mir nun ganz genau alles über diese Lamia erzählen.“
„Sie haben ihn umgebracht!“, flüsterte der junge Priester zunächst völlig fassungslos, wiederholte die Worte aber dann zunächst knurrend und dann wütend brüllend. Die Vampirin ließ sich durch dieses Gebaren nicht weiter beeindrucken, sie lehnte sich zurück und wartete ungerührt ab, bis der Mann sich ein wenig beruhigt hatte, ehe sie sich wieder etwas aufrechter setzte und ihm mit einem kalten, klaren Blick stechend in die Augen blickte und ihn allein durch diese Art, ihn anzusehen paralysierte.
„Ich gebe dir die Möglichkeit, es mir so zu erzählen, schließlich will ich dir nichts tun. Wenn du es mir auf die nette Art und Weise nicht sagen willst, werde ich mir auf die unfreundliche Art die Informationen besorgen.“
Ihre Stimme war ruhig und leise. Bedrohlich. Mit ihrem Blick fixierte sie weiterhin ihr Opfer und bediente sich gleichzeitig unbewusst ihrer stets überwältigenden Aura. Sie setzte einiges daran, zu bekommen, was sie wollte – diese Vampirin war auch niemand, dem man den Gegenstand des Begehrens verweigerte. Niemand tat das und niemand würde das jemals wagen, nicht wenn sie so vor ihm saß wie nun vor dem jungen Priester.
Der verstörte Ausdruck auf dem Gesicht des Menschen wich nach und nach Erstaunen. Seine Augen wurden groß und völlig fasziniert berührte er ihre Wange.
„Lamia“, begann er dann zu flüstern, „war eine Dämonin und eine Geliebte des Zeus.“
Staunend ließ er seine Hand zu ihren Händen sinken, nahm sie sanft und betrachtete bewundernd Innen- und Außenseiten ihrer Hände.
Die Vampirin atmete ruhig durch und beobachtete ihn, sowie sein Tun genauso fasziniert, wie er sie untersuchte. Es war fast wie ein Spiel, ein Experiment, was der Einsatz ihrer Körpersprache bei Menschen bewirken konnte. Bei Menschen, die vorher anderen gegenüber überaus loyal waren. Nun schien es langsam mehr und mehr als würde er von seinen alten Göttern weichen und beginnen sie anzubeten.
„Sie hatten einen gemeinsamen Sohn und Lamia liebte ihn sehr. Doch Hera, Zeus‘ Frau, war wie immer eifersüchtig auf die wunderschöne Geliebte ihres Mannes und tötete den Sohn. Das bereitete Lamia so großen Kummer, dass sie es nicht ertrug, dass andere Mütter Kinder haben konnten. Ihr zuvor sehr freundliches Wesen wurde hasserfüllt und rachsüchtig und sie begann Rache an Hera zu üben, die ja für die Schwangerschaft, die Geburt und die Familie zuständig ist. Lamias Rache bestand darin, kleine Kinder zu töten und ihnen den Lebenssaft zu rauben, wie auch ihr Kind getötet worden ist.“
Es dauerte einen Moment, bis die Vampirin begriff, dass seine Erzählung beendet war.
„Das ist alles?“, fragte sie dann ein klein wenig ungehalten und zog ihre Hände weg. Der junge Mann riss die Augen auf und sah sie an, wie ein geprügelter Hund, was auch der einzige Grund war, weshalb sie ihm nicht augenblicklich den Kopf abriss. Sie hatte sich erhoben und entfernte sich einige Schritte von ihm, wirbelte dann jedoch wieder herum und zog ihn auf die Füße. Nun, nicht ganz, nur so weit, dass er ungefähr so groß war wie sie, was jedoch bedeutete, dass er nicht wirklich aufrecht stand. Mit einer langsamen, sanften Geste, die so gar nicht zu ihren ungestümen Bewegungen von eben passen wollte, strich sie mit ihrem Zeige- und Mittelfinger über seine Schläfe, während ein bösartiges und bedrohliches Lächeln ihre Lippen umspielte.
„Mein junger Freund, glaube mir, du irrst dich, du bist noch nicht fertig mit deiner Erklärung“, korrigierte sie ihn. Ihre Stimme umschmeichelte ihn sanft, streichelte seine Ohren und lockte seinen Verstand zu sich. Langsam und verunsichert richteten sich seine Augen wieder direkt auf sie und sahen nicht länger abwesend in die Ferne.
Die Vampirin ließ ihn wieder langsam auf seinen Sitzplatz sinken und strich ihm über das Haar, bevor auch sie in einer ihrer fließenden anmutigen Bewegungen erneut ihren Platz einnahm.
„Deine Geschichte würde erklären, hätte er mich Lamia genannt, aber was sollte der Teil mit der Träne?“, hakte sie nach. Der junge Priester sah sie eine Weile nur schweigend an, ehe er den Faden wieder fand.
„Die Mütter der Kinder“, flüsterte er.
„Lamia beweinte ihren Sohn und auch die Mütter beweinten ihre Kinder. Sie weinten, wie Lamia, blutige Tränen und wurden so selbst wie sie und brachten den Schrecken unter die Menschen.“
Nun kehrte eine gefährliche und unangenehme Stille im Raum ein. Der junge Priester hatte abwesend auf seine Hände gesehen und hob nun langsam und verunsichert den Blick. Die Vampirin saß ihm nicht mehr gegenüber. Sie stand an der Wand und hatte ihm den Rücken zugewandt. Eine Hand hatte sie an die marmorne Wand gelegt und es schien, als versuche sie, sich an ihr festzuhalten. Jedenfalls waren ihre Finger gekrümmt, als wollten sie Löcher in den Stein bohren und vielleicht war sie auch drauf und dran.
„Ja“, erklang schließlich ihre Stimme. Sie hörte sich rau und brüchig an. Sie war schon lange nicht mehr so angreifbar gewesen wie in diesem Moment. Vielleicht auch noch nie. Ihre schwarzen Haare hingen wie Vorhänge herab und verbargen ihr Gesicht zusätzlich, denn auch ihren Kopf hatte sie leicht geneigt.
„Ja, ich bin wohl eine Lacrima Lamiae. Auch wenn ihr Name nicht Lamia war“, fuhr sie flüsternd fort. Nur ganz langsam konnte man beobachten, wie sich ihre Haltung änderte. Es waren nur Kleinigkeiten, die insgesamt jedoch dazu führten, dass aus dem verletzen Mädchen auf ihrem persönlichen, sinnlosen Rachefeldzug eine wilde, erbarmungslose Rachegöttin wurde, die wie ein schreckliches Unwetter über diese Welt kam, zu dieser Zeit durch nichts und niemanden zu stoppen, ein beinahe übermächtiges Wesen mit einer Vision von der Zukunft und sowohl der Fähigkeit und den Mitteln wie auch der skrupellosen Durchsetzungsfähigkeit, diese Vision Realität werden zu lassen.
„Wieso Lacrima?“
„Wie?“
Die neugeborene Rachegöttin drehte sich langsam und ruhig um und betrachtete den Menschen vor ihr – diesen schwachen, zerbrechlichen Fehler der Natur – einen Moment schweigend.
„Wieso Lacrima? Das ist Latein, auch die Griechen haben ein Wort für die Träne und es ist wohl eine Sage aus der griechischen Mythenwelt. Warum hat er nicht Griechisch gesprochen?“
Dem Priester schien klar zu werden, worauf sie hinaus wollte.
„Nun, der zweite Teil hat nur eine Quelle und das ist eine lateinische. Ohne die griechische Vorgeschichte für Rom wohl unverständlich, aber hier bei uns relativ bekannt. Jemand, der sich Sapientia nannte hat die Sage vor langer Zeit niedergeschrieben. Ich habe gehört, es soll eine der eindrucksvollsten und wortgewaltigsten Mythen sein, eine der eindrücklichsten. Ein hochrangiger Priester meines Tempels hatte einmal das Glück, die Schriftrolle in der Bibliothek von Alexandria studieren zu dürfen. Soll Euch ihm vorstellen?“, fragte er eifrig. Der junge Mann kam immer mehr in den Bann der Vampirin, was diese nur beiläufig wahrnahm und ihr zeigte, dass sie auch so die bedingungslose Loyalität und Ergebenheit der Menschen erlangen konnte, wenn sie ihre Ausstrahlung dafür einsetzte.
Das Angebot lehnte sie mit einem leichten Kopfschütteln ab.
„Ich bin nicht an Kunst interessiert, zumindest nicht jetzt. Ist bekannt, wer genau Sapentia war?“
Der Priester schüttelte den Kopf.
„Nun, es muss die Arroganz in Person gewesen sein, wenn sie sich „Weisheit“ nannte“, stellte die junge Frau fest, konnte es aber nicht geringschätzig klingen lassen, dazu übte der anonyme Autor der Sage zu viel Faszination auf sie aus.
„Nun gut, wie dem auch sei“, holte sie sich selbst in die Gegenwart zurück und richtete ihren Blick fest auf den Menschen, der immer noch vor ihr stand.
„Ich will und werde meinen alten Namen nicht mehr tragen, ich tue es auch gar nicht mehr, aber es langweilt mich, mich anderen als „Herrin“ vorzustellen. Ich denke, ich habe einen guten neuen Namen gefunden. In Zukunft will ich Lamia Lacrima genannt werden“, eröffnete sie dem Priester feierlich und nun endlich glitt ein sanftes Lächeln über ihr Antlitz, ein Lächeln, das nur erahnen ließ, was sie bereits so alles plante.
„Und als Träne der Lamia möchte ich natürlich meiner Aufgabe gerecht werden, mehr noch, ich möchte viel mehr meinem Namen gerecht werden und die Ansprüche meiner „Hera“ hinter mir lassen – dafür werde ich aber Hilfe brauchen und du, kleiner Priester, erscheinst mir hierfür genau der Richtige zu sein.“